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Der Kanzelparagraph war von 1871 bis 1953 (Bundesrepublik Deutschland) bzw. 1968 (Deutsche Demokratische Republik) eine Vorschrift des deutschen Strafgesetzbuches, die den Geistlichen aller Religionen in der Ausübung ihres Amtes eine Stellungnahme zu politischen Angelegenheiten mit Androhung einer Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren untersagte.
Während des Kulturkampfes ging die Reichsregierung des Kaiserreichs unter Führung Otto von Bismarcks gegen Geistliche vor, die in ihren Predigten von der Kanzel aus politische Ereignisse kommentierten. Dieser so genannte „Kanzelmissbrauch“ wurde in einem neuen § 130a untersagt, der am 10. Dezember 1871 in das Strafgesetzbuch eingefügt wurde:
Es kam in der Folge dieser Strafvorschrift auch zu politisch motivierten Haftstrafen gegen katholische Geistliche. Der beliebte Erzbischof von Posen Mieczysław Graf Halka-Ledóchowski wurde zur Höchststrafe von zwei Jahren verurteilt und im Februar 1874 tatsächlich inhaftiert.
Eine Ergänzung vom 26. Februar 1876 weitete die Vorschrift auf die Verbreitung von Schriften aus:
Martin Niemöller gehörte als evangelischer Pfarrer zu den prominenten Geistlichen der Bekennenden Kirche, die unter Heranziehung des Kanzelparagraphen von der nationalsozialistischen Justiz „wegen Kanzelmissbrauchs“ verfolgt wurden. Auch katholische Geistliche wurden im Dritten Reich wegen dieses Paragraphen belangt, zum Beispiel Pater Rupert Mayer. Gegen ihn wurde auf Grund seiner regimekritischen Äußerungen ein Predigtverbot verhängt. Im Juni 1939 erklärte Mayer vor der Gestapo schriftlich:
1942 wurde der katholische Priester Bernhard Lichtenberg zu zwei Jahren Gefängnis wegen Kanzelmissbrauchs und Vergehens gegen das Heimtückegesetz verurteilt, weil er öffentlich für Juden und KZ-Gefangene gebetet hatte:
Lichtenberg wurde daraufhin ein Verstoß gegen § 130a RStGB und das Heimtückegesetz zur Last gelegt.
In der Bundesrepublik Deutschland wurde der Paragraph durch Art. 2 Nr. 18 Drittes Strafrechtsänderungsgesetz vom 4. August 1953 aufgehoben.